Schon seit der EM 2012 bin ich stolzer Bartträger. Eine glückliche Zeit für jeden rasurfaulen Mann, konnte er doch mit gutem Gewissen seinen Rasierhobel im Schrank lassen und seinen Wildwuchs als Glücksbringer für die Mannschaft deklarieren. Warum ich das erzähle, wen das interessiert und wie ich damit einen Zusammenhang zu Events im digitalen Zeitalter herstelle, wird später deutlich werden. Zuvor ist ein wenig Herleitung notwendig.
Wage ich in der aktuellen Zeit morgens nach dem Aufstehen einen kurzen Blick auf mein Handy, ärgere ich mich sofort, dass ich am Vortag nicht Lotto gespielt habe (ganz retro in der Lottobude, aber selbstverständlich mit einem total individuell lustig bedruckten Mund-Nasen-Schutz). Mittlerweile schärfen sich meine hellseherischen Fähigkeiten mehr und mehr, weiß ich doch schon im Vorfeld, welche Art Meldung da als Push-Nachricht und auf den üblichen News-Seiten auf mich wartet. Auf die Inhalte der Mainstream-Artikel muss ich wohl nicht weiter eingehen. Ähnlich eintönig sieht es aktuell aber leider auch im Business aus: fast stündlich erfahre ich von neuen und innovativen Pop-Up Studios und lese Artikel, das wievielte Event die x-te Agentur jetzt innerhalb allerkürzester Zeit schon komplett digitalisiert hat und was für neue Wege man für seine Lieblingskunden beschritten hat.
Die daraus resultierenden Schweißausbrüche und die aufkeimenden Selbstzweifel, ob ich mit meinem – anscheinend veralteten – Denken überhaupt noch konkurrenzfähig bin, versüßen mir den Start in den Tag. Grund genug, an meinen letzten Bestseller (Achtung: Ironie) von Ende März anzuschließen.
Egal, ob ich vor meinen wissbegierigen Studenten stehe, Kunden berate oder meiner Familie erkläre, was ich eigentlich den ganzen Tag mache – der Grundtenor ist stets gleich: Live Kommunikation. Und das mit voller Leidenschaft und Engagement. Wir lieben die Spannung einer nicht wiederholbaren Show, die Emotionen eines solchen Events und auch den Stress, der vor und während des Events ständiger Begleiter ist. Was wir aber am meisten lieben, ist das Gefühl, wenn Menschen miteinander interagieren, sprechen, lachen, tanzen, Business machen, networken. Das ist aus unserer Sicht das große Alleinstellungsmerkmal dieser einzigartigen Branche. Sicherlich haben Sie in letzter Zeit auch schon den ein oder anderen Digitaldrink mit Ihren Freunden via Videochat zu sich genommen. Und? War es ein adäquater Ersatz zum gemeinsamen Biergartenbesuch? Warum hatten wir regelrechte Stürmungen der wiedereröffneten Gastronomien? Warum fiel es vielen so schwer, sich an die Kontaktverbote zu halten und sich eben nicht in großen Gruppen zu treffen? Meine Antwort darauf ist ganz einfach: der Mensch ist halt so – ein Herdentier, ein Netzwerkknoten, ein soziales Wesen. Und egal, wie exponentiell die Digitalisierung in den letzten Jahren vorangeschritten ist, ein echtes Treffen kann noch lange nicht ersetzt werden. Dennoch gibt es mittlerweile gefühlt mehr „digitale Event-Streaming-Studios“, als es Unternehmen gibt.
Rein subjektiv würde ich die Prognose wagen, dass der Markt bereits nach vier Wochen übersättigt ist. Versuchen wir einmal das Ganze nüchtern und rein objektiv zu betrachten: eine Show (welcher Art auch immer) in einem TV-Studio ist eine TV-Show. Dabei spielt es auch keine Rolle, ob wir das Ergebnis via Stream zu den Usern schicken oder eine SNG vor der Tür stehen haben und uns einen Satelliten-Slot buchen. Auch die Möglichkeit zur Interaktion mit den Zuschauern und das Eingreifen selbiger in das Geschehen macht aus dieser TV-Show kein Event. So etwas gibt es schon seit langer Zeit. Angefangen mit einem Troll, der live im TV per Telefon von einem Zuschauer navigiert wird, über TV-Formate bei denen die Zuschauer via Telefonvoting Teilnehmer aus einem Container werfen konnten, bis hin zu Tweetwalls und der Einblendung von Kurznachrichten der Zuschauer. Eine Inszenierung und Dramaturgie kann ich leider ebenfalls nicht als Indikator für ein Event gelten lassen – auch diese gibt es, mal mehr, mal weniger gut, in den diversen TV Shows.
Ja – auch auf unserer Homepage findet sich neuerdings eine Kategorie „Go Digital“ (ist übrigens ein echt unendlich gutes Ding). Natürlich haben auch wir uns Gedanken gemacht, wie wir auf die veränderte Situation reagieren können. Vater/Mutter des Gedankens war aber nicht das Bestreben, die Live Kommunikation zu digitalisieren, sondern eine logische Schlussfolgerung unseres Credos „Service Excellence“: welchen Zusatzservice können wir unseren Kunden bieten? Wir sprechen auch nicht von einem klassischen Digitalevent, denn wir haben die Grundzüge eines Events nicht digitalisiert. Wir haben nur den Kommunikationsweg zwischen Sender und Empfänger temporär geändert – deswegen auch Go Digital. Vielleicht sollten wir uns an dieser Stelle bei unseren Kunden entschuldigen. Dafür, dass wir es nicht geschafft haben, das Live-Feeling per Stream rüberzubringen. Dafür, dass wir keine echten Emotionen erzeugen konnten. Dafür, dass das Publikum vor dem Screen keine Standing-Ovations gegeben hat. Und auch dafür, dass wir einfach keinen Weg gefunden haben, das gemeinsame Feierabendbier durch den Mund-Nasen-Schutz zu trinken. Vielleicht waren wir einfach nicht gut genug.
Bitte lasst uns aufhören, Streaming-Studios und artverwandte Pop-Ups zu glorifizieren und der Quadratur des Kreises gleichzusetzen. Hört bitte auf zu predigen, dass sich Events für immer verändern werden und Digitalität deren Platz einnehmen wird. Prophezeit bitte keine weiteren postapokalyptischen Szenarien für unsere heißgeliebten Live-Events mehr. Lasst uns doch unsere neuen Streamingstudios und Digitallösungen einfach als wert- & sinnvolle Ergänzung unseres grandiosen Portfolios sehen. Die Erkenntnis, dass Videokonferenzen ein adäquater Ersatz für 30-Minuten Meetings mit kumulierten 2.400km Anfahrtsweg der Teilnehmer sind, ist unser längst überfälliger Beitrag zum Klimaschutz.
Enden möchte ich, wie so häufig, gerne mit einem Vergleich aus dem echten Leben und greife den Anfang dieses Artikels auf: seit einigen Monaten darf ich mich der Gesellschaft stolzer Träger eines Moustaches (dt.: Schnauzbart, Schnäuzer, Ro**bremse, Por**balken) zugehörig nennen. Damit man damit nicht wie ein an Heuschnupfen leidendes Walross im Frühling aussieht, bedarf es einiges an Zuwendung. Da ich mich dafür in den letzten Wochen aus bekannten Gründen nicht an den Barber meines Vertrauens wenden konnte, musste ich zwangsläufig lernen, das Ganze selbst zu erledigen. Das Ergebnis ist, gerade unter Anrechnung der besonderen Zeiten, zufriedenstellend. Keinesfalls ist es aber mit dem vergleichbar, was es „im normalen Leben“ sein könnte. So wie es auch ein „Digitalevent“ im Vergleich zu einem Live-Event nicht ist.